„In der Geschäftsleitung ist man permanent im Anstieg begriffen“: Andreas Merkel über unternehmerische Gipfelträume

31.07.2023

Nicht alle Bergtouren sind von Erfolg gekrönt. Am K2, dessen Erstbesteigung sich am 31. Juli jährt, sind unzählige Kletterer gescheitert. Viele haben, bereits im Abstieg begriffen, ihr Leben gelassen (Himalaja: K2 - Himalaja - Gebirge - Natur - Planet Wissen (planet-wissen.de). Trotzdem ist nichts schlechter, als am Fuße eines Berges zu verharren, da ist sich Andreas Merkel sicher. Anlässlich der K2-Erstbesteigung am 31. Juli 1954 hat er seine Gedanken zu unternehmerischen Gipfelträumen und (nicht) erfolgreichen Bergabenteuern geteilt.

Andreas, welchen Bergen sieht sich ein Unternehmen wie Gebr. Otto gegenüber?

Die Textilindustrie in Deutschland und Westeuropa unterliegt seit Jahren einem immensen Wandel: Als ich 1998 ins Unternehmen kam, hatten wir zahlreiche Kunden auf der Schwäbischen Alb, die bei uns Garne in 100 Prozent Baumwolle gekauft haben. Die Durchschnittsnummer in unserer Spinnerei lag bei Nm 40/1; davon produzierten wir pro Jahr rund 3.600 Tonnen. Unsere Angebotspalette fand bequem auf einer DIN A4 Seite Platz: Sie reichte von Nm 24/1 bis Nm 68/1. Brauchte ein Kunde eine Mischung oder ein Garn außerhalb unseres Produktionsprogramms, so haben wir auf Spinnereikollegen verwiesen oder einfach abgesagt.

Heute werden solche Garne im Bereich Mittelstapel aus 100 Prozent Baumwolle in Westeuropa kaum mehr verarbeitet. Textilien in diesem Bereich kommen bei uns meist als Fertigware auf den Markt, beispielsweise als T-Shirt. Um sich in diesem schrumpfenden Markt behaupten zu können, hat sich unsere Haltung grundlegend gewandelt, wandeln müssen. Ein „geht nicht“ bekommen unsere Kunden nicht zu hören. Oder um in der Berg-Metapher zu bleiben: Wir schnüren die Wanderschuhe und beginnen den Anstieg.

An welche erfolgreiche Expedition erinnerst Du Dich?

Die Verarbeitung der superleichten Kapokfaser war definitiv eine erfolgreiche Expedition. 2004 haben wir damit ein vielbeachtetes Zeichen im Markt gesetzt. Gebr. Otto war weltweit die erste Spinnerei, der es gelang, Kapok in einer Mischung mit Baumwolle zu verspinnen. Die Nachfrage nach diesem Garn war zu Beginn enorm. Außerdem haben wir uns damit den Ruf eines innovativen Unternehmens erworben.

Die Erfolgsfaktoren für dieses Projekt waren zum einen unser „Otto-Engineering-Team“ mit vielen Spezialisten im Bereich der Textiltechnologie und unserer Elektro- und Handwerkerabteilungen. Die Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut in Denkendorf sowie mit der Universität Ulm haben ebenfalls maßgeblich zum Erfolg beigetragen.

Auf diese Erfahrung haben wir aufgebaut: Heute führen wir neben Garnen aus 100 Prozent Baumwolle ein breites Programm an verschiedenen Mischungen und innovativen wie auch nachhaltigen Garnen aus Spezialfasern. Zudem konnten wir durch die Vielzahl unserer Managementsysteme interessante Nischen in der Textilindustrie besetzen wie beispielsweise Bio-Baumwolle oder Fairtrade-Garne.

Welche Gipfelträume von Gebr. Otto musstest Du begraben?

Da fällt mir direkt die Geschichte mit den Wattepads ein. Vor etwa zehn Jahren haben wir aus dem Wunsch heraus, uns zu diversifizieren, innovative Wattepads entwickelt. Sie verfügten über besonders saugfähige Kapokfasern im Kern. Die Pads waren hervorragend in jeglicher Hinsicht. Bei einer Marktstudie durch ein renommiertes Institut im Vergleich mit anderen Wattepads haben wir neue Maßstäbe setzen können. Kein anderes Wattepad hat im Verbrauchertest nur annähernd so gut abgeschnitten. Dann sind wir losmarschiert: Wir haben nahezu eine halbe Million Euro in eine neue Produktionslinie investiert und sind hoffnungsvoll in den Markt gegangen.

Leider mussten wir feststellen, dass der Markteinstieg mit einem neuen Produkt in einem neuen Markt sehr schwierig, ja nahezu möglich ist. Unsere potenziellen Kunden, die großen Drogeriemarktketten, waren Lieferanten gewohnt, die den ganzen „Bauchladen“ an Produkten anbieten können, nicht nur ein – noch so gutes – einzelnes Produkt. Trotz enormer Bemühungen ist es uns damals nicht gelungen, die Pads am Markt zu platzieren. Das Ende dieser Expedition war die Deinstallation der Anlage und ein „Totalschaden“ aus finanzieller Sicht.

Ein weiteres Projekt, das mir beim Stichwort K2 in den Sinn kommt, war die Einführung einer neuen ERP-Software. Im Jahr 2013 haben wir dieses Projekt gestartet und viel Zeit und Geld in die Weiterentwicklung einer Standardsoftware auf den Bereich „Textil“ investiert. Vier Jahre später haben wir die Notbremse gezogen. Der EDV-Anbieter hatte alles versprochen – aber nichts gehalten. Die Anforderungen an Textilien waren einfach zu komplex, als dass diese mit einer „normalen“ ERP-Software abzudecken wären. Wir haben uns dann für eine textile ERP-Lösung entschieden. Das Projekt konnten wir zwei Jahre später erfolgreich abschließen. Das hat sich für mich wie die Besteigung eines unendlich hohen Berges angefühlt und ich bin sehr froh, dass wir diesen Gipfel inzwischen erklommen haben!

Was hast Du von diesen Erfahrungen des Scheiterns mitgenommen?

Das Watteprojekt ebenso wie das erste fehlgeschlagene ERP-Projekt haben uns zwar enorm viel Zeit, Geld und Kraft gekostet. Aus heutiger Sicht haben wir als Team und Unternehmen dennoch davon profitieren können. Wir haben damit viel dazu gelernt und nutzen noch heute Erkenntnisse aus diesen Projekten.

Schließlich läuft ein Unternehmen, und damit ich als Geschäftsführer, gefühlt immer irgendwie den Berg hinauf. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich schon mal bergab gelaufen wäre. Klar, in einzelnen Projekten kann man den Gipfel erreichen, dann ist man oben und darf stolz sein. Aber der nächste Berg wartet schon – der Markt ist immer im Wandel!

Manchmal ist man auch schlicht zu früh unterwegs. Das ging uns mit unserer recycelten Baumwolle, mit recot2 so. Als wir mit dem Produkt 2008 auf den Markt kamen, war das Interesse verhalten. Erst seit die Kreislaufwirtschaft ein Thema ist, erfährt dieses Garn einen Nachfrageschub.

Deshalb: Man geht den Weg nie umsonst!

Wie gehst Du generell mit Herausforderungen um? Suchst Du auch mal den Weg um den Berg herum?

Ich laufe los, wenn ich auch nur eine kleine Chance sehe, irgendwie oben anzukommen. Vor dem Berg stehenzubleiben, mag zwar als die bequemste Option, die sicherste erscheinen. Wir alle haben eine Komfortzone und um Neues auszuprobieren, braucht es Mut. Schließlich ist die Route unbekannt, vielleicht muss ich auch mal ein Stück zurückgehen und mir einen neuen Weg überlegen. Wenn ich den Mut dazu aber nicht aufbringe, mein Produktportfolio nicht ändere, kann ich zuschauen, wie mir links und rechts die Kunden wegbrechen. Stehenzubleiben ist für mich keine Option!

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